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Brexit-Hochburg Canvey Island "Die Leute haben die Schnauze voll"

Auf dem Weg zum Brexit machte Premier Boris Johnson diese Woche keine gute Figur: Das Unterhaus hat einen schnellen Ausstieg wohl verhindert. Wie finden das seine treuesten Anhänger? Zu Besuch in einer Hochburg der Brexiteers.
Ach, wäre der Brexit doch nur ein Bulle, den jeder lässig am Nasenring durch die Manege führen könnte - Boris Johnson verbrachte den Freitag auf einer Farm nahe Aberdeen

Ach, wäre der Brexit doch nur ein Bulle, den jeder lässig am Nasenring durch die Manege führen könnte - Boris Johnson verbrachte den Freitag auf einer Farm nahe Aberdeen

Foto: Andrew Milligan / AFP

Der Mann, der in der Brexit-Hochburg den Ton angibt, stöhnt auf, wenn er an das jüngste Drama im britischen Parlament denkt. "Ein Desaster", sagt Dave Blackwell. "Die Leute haben die Schnauze voll. Sie wollen, dass das endlich ein Ende findet." Viele Briten hätten ihre Meinung darüber geändert, ob ihr Land die EU verlassen soll. Aber in seiner Heimat, auf Canvey Island? "Nein!" Blackwell lacht. "Canvey wird sich nie verändern."

Nur anderthalb Zugstunden vom Londoner Zentrum entfernt liegt die kleine Insel an der Themsemündung. Im Verwaltungsbezirk Castle Point, zu dem Canvey Island gehört, haben 72,7 Prozent der Wähler beim Referendum 2016 für den Brexit votiert. Nur in zwei britischen Wahlkreisen lag die Zustimmung höher. Bei den Wahlen zum EU-Parlament im Mai 2019 erreichte Nigel Farages neu gegründete Brexit-Partei hier aus dem Stand 58,7 Prozent der Stimmen, auch das ein Spitzenwert.

Was ist das für ein Ort? Und wie ist hier die Stimmung - jetzt, nachdem Premier Boris Johnson gleich mehrere Rückschläge in Folge einstecken musste? Jetzt, wo ein Austritt zum angepeilten Termin am 31. Oktober ein gutes Stück unwahrscheinlicher geworden ist?

Auf dem Wasser hinter der Ufermauer glitzert die Sonne, in den Gärten vor den Ziegelhäuschen stehen Vogelbeerbäume und Palmen. Rund 38.000 Leute leben hier. Über einigen Häusern weht der Union Jack, hier und da auch die rot-weiße Flagge Englands. Fast jedes Gebäude an der Furtherwick Road beherbergt ein Geschäft: Optiker, Bank, Fish & Chips, Makler, Tapas-Bar. Vor dem Costa Coffee sitzt der pensionierte Gartenbauer Blackwell, 72, ein zupackender Mann mit lachenden Augen und einer Mission.

2004 hat er die Canvey Island Independence Party (CIIP) gegründet und sitzt ihr seither vor. Heute stelle die Partei jedes einzelne Gemeinderatsmitglied, das der Insel zusteht. Sie will ein großes Unrecht ungeschehen machen: Im Zuge einer Gebietsreform 1974 wurde Canvey mit einigen Gemeinden auf dem Festland zusammengelegt und erhielt, sagt Blackwell, zu wenige Ratssitze. Seither würden die Belange der Insel von denen da drüben regelmäßig übergangen. Das missfällt den Insulanern, die ihre eigenen Dinge zu regeln pflegten, seit holländische Siedler im 17. Jahrhundert das Land dem Wasser abgetrotzt haben. Sie wollen sich wieder selber regieren.

Ein Narrativ, an das die Brexit-Kampagne leicht anknüpfen konnte. "Ich habe zuerst geglaubt, was man mir erzählt hat", sagt Blackwell. "Kontrolle über unsere Regeln, yeah, das gefällt mir." Ein klitzekleines bisschen Parteipolitik kam dazu: Er, Blackwell, habe dem örtlichen Vertreter der EU-feindlichen Partei UKIP zugesichert, ihn in der Brexit-Frage zu unterstützen - wenn der seinerseits keine Kandidaten für die Lokalwahlen aufstellen würde. Damals sei die ganze Insel begeistert gewesen: "Nichts wie raus!"

Das hat sich seither eingetrübt. "Ich bin gespalten", gesteht Blackwell. Er befürworte den Brexit immer noch, aber nicht ohne Deal - dann werde sicher die Wirtschaft einbrechen. Einer seiner Söhne lebe in Schweden, den wolle er auch künftig ohne Visum besuchen können. Und das mit der Zuwanderung, das sei ja im Grunde gar kein Thema hier: "Canvey Island hat praktisch keine Migranten", sagt Blackwell. "Beim letzten Zensus haben 95 Prozent Engländer als Nationalität angegeben, nicht Brite." Viele seiner Mitbürger seien fortgeschrittenen Alters - "die neigen dazu, zu glauben, was in der Zeitung steht".

Die Handarbeitsrunde beim Tee: "Wir waren alle für Boris"

In einer zum Kulturzentrum umgewidmeten Kirche, umgeben von einem malerisch verfallenen Friedhof, sitzen ein halbes Dutzend englische Damen und sticken. Die zusammengeschobenen Tische in der Mitte sind mit Garnen und Stoffen bedeckt. Wie jeden Donnerstagnachmittag wird zur Handarbeit Tee getrunken und palavert, dieses Mal geht es - natürlich - um den Brexit.

"Wir waren alle für Boris", sagt die eine.

"Er ist nicht so spießig wie die Premiers, die wir sonst vorgesetzt bekommen", eine andere.

"Sie haben ihm keine Chance gegeben", moniert eine dritte.

Beim Referendum haben sie alle für den Brexit gestimmt. Dass das Unterhaus am vergangenen Mittwoch ein Gesetz verabschiedet hat, das dem Premier einen ungeordneten Austritt untersagt, empfindet die Runde als Ungeheuerlichkeit. "Wenn wir ohne Deal gehen, müssen wir wenigstens nicht die 350 Milliarden Pfund zurückzahlen, oder wie viel das noch mal war", brummt Mavis Worsfold. Die unwilligen Parlamentarier seien Feiglinge. "Es wird ein paar Monate ungemütlich werden, dann wird sich alles legen."

Wie es nun weitergehen soll? Allgemeine Ratlosigkeit, dann wagt Linda Bracci sich mit einer Idee vor. "Ich weiß, dass die königliche Familie sich nicht in die Politik einmischen darf, aber letzten Endes ist es ja die Regierung Ihrer Majestät. Ich finde, sie sollte einschreiten." Kurze Abwägung, dann herrscht Einigkeit, dass auch die Queen für den Brexit sei.

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Canvey Island: "Canvey wird sich nie verändern"

Foto: Georg Fahrion

"Ich will mir nicht von Brüssel erzählen lassen, wie ich zu sein habe", sagt Worsfold. "Wir haben zwei Kriege gewonnen, und immer noch diktiert man uns." Es geht dann noch um Angela Merkel und die Flüchtlinge, um überrannte Schulen und ein überfordertes Gesundheitssystem. Man zahle zu viel Geld an die EU, das anderswo besser investiert sei.

Man würde gern erfahren, was die wenigen nicht-weißen Menschen auf Canvey über die Lage denken, doch viele halten sich zurück. Die jungen Männer mit den dunklen Bärten im Friseurladen sagen, sie hätten keine Ahnung von Politik; die Angestellten im türkischen Restaurant sagen in gutem Englisch, sie sprächen die Sprache zu schlecht.

Die Angst vor Ausländern und Preissteigerungen

Auch Jay, der jamaikanische Verkäufer am Obststand, verweist zuerst an seinen blonden Kollegen. Dieser erklärt, auch nach einem Brexit müssten die Franzosen ja ihre Aprikosen loswerden und die Spanier ihre Pfirsiche, es könne so schlimm folglich nicht werden. Da greift Jay doch ein: "All unsere Ware kommt aus anderen Ländern. Das wird dann teurer, oder nicht?" Er finde, Großbritannien sollte in der EU bleiben.

Fotografieren lassen will Jay sich nicht, auch seinen Nachnamen nicht verraten. "Die Leute werden sagen: Geht nicht mehr zum Obstmann!" Er wendet sich an einen Mann, der in diesem Moment am Stand vorbeiläuft, offenbar kennen sie sich: "Hey Steve! Findest du, dass das Vereinigte Königreich raus aus der EU sollte?"

Steve bleibt stehen. Getönte Brille, der Kragen seines roten Polohemds ist im Ausschnitt seines Pullunders hängengeblieben. "Ja, sollten wir, so schnell wie möglich!" Mit Deutschen oder Franzosen habe er ja kein Problem. "Aber all diese Bulgaren und Rumänen!"

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Britischer als Ray Howard kann man gar nicht sein, der ehemalige Hühnerfarmer ist ein lebendes Klischee: 77 Jahre alt, roter Wollpullover, Member of the Most Excellent Order of the British Empire. Auf seinen Teebecher - keine Milch, kein Zucker - sind Fotos der jungen Queen gedruckt. Ein Foto an seiner Esszimmerwand zeigt ihn mit Prinz Charles. In dem Wust auf seinem Tisch liegt eine DVD von "Darkest Hour", ein Film über Winston Churchill.

1968 haben seine Mitbürger ihn zum ersten Mal in den Gemeinderat gewählt, sein Ehrenname lautet "Mr. Canvey". Wie sein Auftritt es vermuten lässt, ist Howard ein Konservativer. Über den Zustand seiner Tories ist er tief besorgt. Er zeigt auf den Fernseher, auf dem eben noch die Nachrichten liefen: "Boris Johnsons Bruder ist gerade zurückgetreten. So gespalten ist unsere Partei." Er sei ein gläubiger Mann, gehe jeden Sonntag in die Kirche. "Ich hoffe und bete, dass alles zu einem guten Ende kommt."

Auch Howard hält immer noch daran fest, dass das Ergebnis des Referendums umgesetzt werde, "17,4 Millionen haben dafür gestimmt". Die Haltung eines wahren Gentlemans, wenn man bedenkt, dass der Brexit seiner eigenen politischen Laufbahn nach 51 Jahren ein Ende gesetzt hat. Bei den Lokalwahlen im Mai fehlten ihm 40 Stimmen, ein Abgeordneter von Dave Blackwells CIIP zog an seiner Stelle in den Gemeinderat ein.

Es hatte Howard Sympathien gekostet, dass er beim Brexit-Referendum mit Nein gestimmt hatte.