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Illustration: DER SPIEGEL
Sandra Schulz

Sinne »Quatsch muss sein!«

Was lernen Gummistiefelkinder alles im Matsch? Für unsere Tochter mit Downsyndrom war der Waldkindergarten ein idealer Ort. Warum Kinder in der Natur aufblühen – und Eltern nicht auf dem Bürostuhl verwelken sollten.
aus SPIEGEL Edition 2/2023

Als ich kürzlich den neuen Stundenplan unserer Zweitklässlerin betrachtete, blieb ich an einem Wort hängen: Montag sei Waldtag, stand dort. Als nächstes fiel mir ein: Mist, heute ist Montag!

Her mit dem Dreck! (Symbolbild)

Her mit dem Dreck! (Symbolbild)

Foto:

Sally Anscombe / Getty Images

Schnell drückte ich meinem Mann, der sie an diesem Morgen zur Schule brachte, noch das Zeckenspray  in die Hand, ein kurzer Blick: Unsere Tochter trug ohnehin gerade lange Hosen, wie praktisch, und schon war sie verschwunden, unser ehemaliges Waldkindergartenkind.

Vielleicht verklärt sich gerade mein Blick auf diese Zeit, jetzt, da schon ein Jahr Schule hinter uns liegt. Aber wenn ich an diesen Lebensabschnitt zurückdenke, habe ich immer ein gutes Gefühl. Nicht nur, weil dieses kleine Häuschen am Waldrand, umgeben von Feldern, bei mir selbst Sehnsüchte wachrief.  Der Waldkindergarten war ein Ort, der unserer Tochter mit Downsyndrom sehr entsprach.

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Schon die Umgebung war beruhigend: grün und reizarm und vergleichsweise leise im Vergleich zu einer trubeligen Kita mit verschiedenen Gruppen in einem Gebäude. Weshalb ich glaube, dass das Spiel in der Natur vielen Kindern mit Beeinträchtigungen entgegenkommt – und nicht nur denen.

Hier konnte unsere Tochter zudem »mithalten«. Gemeinsam große Äste tragen, im Dreck kochen spielen, mit der Schubkarre umherfahren, den Bollerwagen ziehen, getrocknete Blätter in die Luft wirbeln – das alles gefiel ihr, das alles konnte sie gut. Deshalb war sie auch eine gute Spielpartnerin für die Kinder ohne Behinderung. In ihrem Fotoordner, den uns die Bezugserzieherin schenkte, steht: »Oft hast du die Gruppe zum Ballspielen versammelt.«

Natürlich gab es auch Dinge, die ihr nicht gefielen, lange Märsche zum Beispiel, und es gab Dinge, die sie dort erst lernte: auf den Palettenturm klettern. Und sich – nach der Coronazeit – in eine Gruppe einfügen, in der sie das einzige Kind mit Behinderung war.

Und das ist die zweite Erfahrung, die ich in positiver Erinnerung behalten habe: Alle Erzieherinnen vermittelten mir das Gefühl, dass sie das wollten, was ich mir wünschte für unsere Tochter: Inklusion. Auch, wenn sie im Berufsalltag vielleicht noch gar nicht so viel Erfahrung damit hatten. Die Haltung war: Das kriegen wir hin! Natürlich klappte nicht alles reibungslos: Zunächst eine tägliche Stunde Eingewöhnungszeit mit vielen Programmpunkten – gut gemeint, aber besser wären zwei oder drei Stunden gewesen, in der alles langsamer vonstattengegangen wäre. Denn unsere Tochter braucht Zeit, um sich in Situationen einzufinden.

Doch irgendwie rauften sich alle zusammen, auch wenn sich mancher zwischendurch die Haare raufte. Oder sich die Haare raufen lassen musste – von unserer Tochter. Das Thema »Haare ziehen« begleitet uns schon seit der Krabbbelstube. Einig sind sich alle Pädagoginnen bisher darin gewesen, dass dies kein Akt der Feindseligkeit ist, sondern eher eine Ausdrucks- oder Kontaktaufnahmeform. Verständlicherweise keine, die dem Gerauften gefällt.

Weswegen in der ersten Woche plötzlich alle Kinder aus Angst Mütze trugen (nur unsere Tochter nicht, obwohl sie sollte, als Sonnenschutz). Doch – oh Wunder – auch dieses Thema war irgendwann keines mehr. Stattdessen gab es eine gemischt-bemützte Kinderschar, und wenn ich meine Tochter abholte, trug sie Sonnenhut und war gut gelaunt und dreckig. Mein Lieblingssatz aus dem Fotoordner lautet: »Quatsch muss sein!«


Meine Lese- und Hörtipps

Meine Kollegin Eva Lehnen hat eine Wildnispädagogin gefragt, wie man Stadtkinder nach draußen lockt  und viele gute Ideen gesammelt. Interessant fand ich die Beobachtung: »Viele Stadtkinder haben Schwierigkeiten, auf unebenem Waldboden sicher zu laufen. Sie stolpern und fallen. Umso wichtiger ist es, sie auch wirklich klettern zu lassen, wenn sie irgendwo hinaufwollen.« Sie höre übrigens, sagt Mirjam Bombis, ob eine Familie oft in der Natur sei oder nicht. »Kinder, die im Wald besonders laut sind oder herumschreien, drücken so ihre Unsicherheit aus. Wer schon ein bisschen Naturverständnis entwickelt hat (...), der hört eher zu und beobachtet aufmerksam.« Leider habe ich selbst als Großstadtkind den Wald erst spät für mich entdeckt. Dafür genieße ich ihn jetzt umso mehr.

Wer noch gute Argumente braucht, um rauszugehen, dem empfehle ich diesen Podcast: Deshalb tut uns Natur so gut. Hier stellt die Umweltpsychologin Dörte Martens verschiedene Theorien vor, warum der Aufenthalt draußen, der Blick auf unverbaute Landschaft, das Erleben von Naturgeräuschen uns Erholung bringt. Interessanterweise decken sich die Forschungsergebnisse mit meinem Eindruck: Kinder spielen in der Natur autonomer im Vergleich zum Spielplatz, bei dem die Eltern noch mehr eingebunden sind. Und es finden sich im Grünen leichter Kinder verschiedener Altersgruppen zusammen für gemeinsame Aktionen.

Manchmal macht es ja Spaß, seine Leidenschaften mit ein wenig ironischer Distanz zu betrachten. Ein unterhaltsamer Text darüber, was wir Waldliebhaber und -liebhaberinnen eigentlich bei den Bäumen suchen, ist diese Erkundung, bei der es um Kettensägen, Waldbaden und den letzten Frieden geht .

Und dann will ich Sie noch auf diesen aktuellen Kommentar meiner Kollegin Swantje Unterberg hinweisen: Lasst euch nicht behindern! , in dem sie die systematische Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung scharf kritisiert. Vollkommen zurecht.

Doch auch wir haben uns als Eltern, nach langer Abwägung, entschieden, unsere Tochter an eine Förderschule zu schicken. Soll ich sagen »schweren Herzens«? Ich sehe die Vor- und Nachteile von Förderschulen mittlerweile sehr klar, nicht nur in der Theorie. Aber wir hatten in unserem Fall, bei unserer Tochter, an unserem Wohnort, bei den Optionen gute Gründe, uns für diese Schulform zu entscheiden. Im Kern bin ich trotzdem bei Swantje, wenn sie schreibt, gegen Barrieren im Kopf helfe: Begegnung.



Mein Moment

Während ich hier am Schreibtisch sitze, ist es zum ersten Mal herbstlich draußen, und eigentlich habe ich noch gar keine Lust, den Sommer gehen zu lassen. Wie gut, dass unsere Kochkolumnistin Verena Lugert so leckere Stimmungsaufheller in ihrer Sammlung hat wie diesen: Kürbis-Pasta. Doch es gibt noch etwas Anderes, Wichtigeres, das uns in der Redaktion gute Laune macht:

Als mein Kollege Malte Müller-Michaelis neulich darüber schrieb, dass sein Sohn nicht gern zur Schule geht, erreichten uns wieder unglaublich viele E-Mails. Und dass wir uns gegenseitig unsere Geschichten erzählen, wir hier, Sie dort, freut uns sehr! Denn es ist – in den allermeisten Fällen – wirklich ein Erzählen, kein Belehren, Tadeln, Konkurrieren, Hauen und Stechen. Bewertet werden wir als Eltern doch schon genug, oder? Genauso wie unsere Kinder: Ist das noch »normal« oder nicht?

Umso schöner, dass wir einfach einen Austausch pflegen, der sich sogar über die ganze Welt erstreckt. Es kamen schon Zuschriften aus Australien, den Philippinen und den USA. Deswegen fände ich es toll, wenn Sie uns Ihre Erfahrungen aus dem Ausland berichten. Wie läuft es dort mit der Inklusion in Schule und Kindergarten? Gibt es bei Ihnen auch »Outdoor-Kindergärten«? Und was halten Sie überhaupt von Waldkindergärten? Schreiben Sie mir doch an familie@spiegel.de ! Wir hören uns...

Herzlich,
Ihre Sandra Schulz

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