Im Sattel der Welt entfliehen

Foto: David de Vleeschauwer

Wer jenseits aller Mainstream-Routen und konventionellen Reisen seine große Sehnsucht nach unberührter Natur und Einsamkeit stillen will, sollte sich in Argentinien auf ein Pferd schwingen und durchs wilde Patagonien reiten.

10. Juni 2021
Text: DEBBIE PAPPYN
Übersetzung: ANNETTE CHARPENTIER
Fotos: DAVID DE VLEESCHAUWER

Winston Churchill meinte einmal, dass keine Stunde, die man im Sattel verbringe, vergeudete Zeit sei. Und bestimmte Momente im Leben verlangen einfach nach einem Trip, der alle Perspektiven verändern kann, einer Reise über alle üblichen Standardvorstellungen hinaus und jenseits aller Mainstream-Routen, mit der man die große Sehnsucht nach unbekannten Gebieten und einer wilden, wunderbaren und ungezähmten Landschaft stillen kann.

Reiseführer Jakob von Plessen führt die Gruppe über den „Tränenpass“.
Reiseführer Jakob von Plessen führt die Gruppe über den „Tränenpass“.

Es gibt einen Trip, der all diese Kriterien erfüllt: Reiten mit Gauchos im argentinischen Patagonien durch die weiten Vorgebirge der Anden. Jakob von Plessen, Gründer und Besitzer von Jakotango Safaris, wird uns bei der Expedition durch diesen ungewöhnlichen Landesteil begleiten. Der Ritt führt durch ein riesiges Privatgelände von 12.000 Hektar und in den über 400.000 Hektar großen Nationalpark Lanín. Wir werden zwei bis acht Stunden täglich die phantastischen einheimischen Criollo-Pferde reiten und von weichen Schaffellsätteln aus die sensationelle Landschaft bewundern. Unsere kleine Reisegruppe wird in Luxuszelten oder komfortablen Hütten übernachten und in dieser Woche, in Gesellschaft von ein paar Gauchos, das Lagerfeuer, die Becher mit Whiskey und viele Abenteuergeschichten teilen.

Eine Geschichte aus der aktuellen Ausgabe des Magazins der F.A.Z. „Frankfurter Allgemeine Quarterly“

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Es gibt nur ein Problem: Ich habe nicht viel Erfahrung als Reiterin – eigentlich überhaupt keine. Hier und da habe ich es mal probiert, einmal auf einem Mustang im amerikanischen Utah, ein anderes Mal auf einem Lusitano-Pferd im staubigen Alentejo in Portugal.

Hier gibt es keine Brücken: Flussdurchquerrung
Hier gibt es keine Brücken: Flussdurchquerrung

„Kein Problem. Du schaffst das schon. Unsere Criollos sind sehr klug und recht geduldig, perfekt für Reiter mit nur wenig Erfahrung“, schrieb Jakob zurück, nachdem ich ihm meine Zweifel gebeichtet hatte. „Bring ein paar gute Reitstiefel mit, Kleidung, die für jedes Wetter innerhalb eines Tages geeignet ist, vielleicht einen Cowboyhut und Chaps (lederne Reithosen).“ Jakob von Plessen war ein echter Kavalier, aufgewachsen in der argentinischen Pampa, er verbindet bodenständige Gaucho-Attitüde mit einem Hauch europäischer Finesse, Erbe seiner österreichisch-deutschen Abstammung. Seine sportlichen und handwerklichen Fähigkeiten erwarb er schon als Jugendlicher. Er lebte mit den Gauchos, lernte die Kunst, Viehherden zu hüten und ein Lasso zu schwingen, vor allem Wildpferde einzureiten – und ihren Charakter zu verstehen.


„Bring ein paar gute Reitstiefel mit, Kleidung, die für jedes Wetter innerhalb eines Tages geeignet ist, vielleicht einen Cowboyhut und Chaps (lederne Reithosen).“
JAKOB VON PLESSEN von Jakotango Safaris

Sein Unternehmen entstand aufgrund einer Unterhaltung zwischen ihm und einem Major der Armee, den er zu Beginn seines Reisejahrs nach der Schule kennenlernte. Wie vielen Achtzehnjährigen fehlten ihm ein Ziel und eine Richtung, aber eines wusste er ganz genau: dass er sein Leben in der Natur und mit Pferden verbringen wollte. Jakob sagt, dass hier in der Wildnis, umgeben von Pferden, der einzige Ort sei, wo er sich nützlich fühlt. Sein Motto lautet: „Was nicht kaputt ist, soll so bleiben.“ Die Entscheidung, auf dem Land zu leben, in der Wildnis und nicht in der Großstadt, fiel sehr rasch. Nach dem Reisejahr und zwölf Jahren als Leiter von Reit- und Abenteuertouren in Kenia kehrte er nach Argentinien zurück und wurde selbst Veranstalter. Er stellt die Ausrüstung zur Verfügung, und die Ausflüge werden entweder von ihm selbst geleitet oder von einem seiner Kollegen, die allesamt fundierte Landeskenntnisse, Reitkunst und ein wunderbar altmodisches Charisma beisteuern. Sie sind alle auf dem Land aufgewachsen, haben viel Zeit mit Pferden und Vieh zugebracht und dabei die Sprache der Natur gelernt.

Rast – ohne Sattel – auch für die einheimischen Criollo-Pferde
Rast – ohne Sattel – auch für die einheimischen Criollo-Pferde

Die Reise durch die argentinische Wildnis beginnt zwei Autostunden entfernt, eine halbstündige Bootsfahrt eingeschlossen, in Bariloche. Unsere kleine Gruppe wird im Jakotango-Base-Camp begrüßt, wo fast alle Ausflüge ihren Ausgang nehmen. Die Pferde warten gesattelt auf den Ausritt. Die Criollos sind die einheimischen Pferde der argentinischen Pampa, berühmt für ihre Trittsicherheit und Ausdauer.

Das Base Camp liegt im Nationalpark Lanin und ist eine so zauberhafte patagonische Zuflucht, wie man sie sich nur erträumen kann: Die alten Holzhütten haben einen rustikalen Charme, und das Interieur ist dabei gestylt wie für ein Architekturmagazin. Ein gemütlicher Ort zum Ausruhen, wo stets ein Feuer in einem Holzofen brennt, auf dem dazu noch eine Kanne mit heißem Kaffee wartet. Auf der Veranda kann man die inspirierende Stille der Umgebung genießen. In der Ferne grasen derweil die Pferde. Es ist ein perfektes Willkommen und eine gute Gelegenheit, Jakob und sein Team besser kennenzulernen: Marito Zanoni und seinen Kumpel Alberto Russo, die beiden Gauchos, dazu Daisy Soames, eine britische Reitexpertin und ebenfalls Reiseführerin. Die anderen Gäste und Reiterkollegen sind Helen und Marie-Rose, beide aus England.

Das Base-Camp in der Dämmerung
Das Base-Camp in der Dämmerung

Die erste Nacht in einem der Zelte im Safari-Stil, mit einem anständigen Bett, Heizung und privater Dusche, erleichtert die Gewöhnung an die neue Umgebung und den ersten Kontakt mit der beeindruckenden Schönheit und Stille von Patagonien. Jedes Zelt hat einen Holzofen, der morgens und abends eingeheizt wird, damit das Zubettgehen und das Aufwachen so angenehm wie möglich sind.

Am Morgen ist unsere Gruppe bereit, die Pferde zu satteln und hinaus in die Wildnis zu reiten. Unser heutiges Ziel ist der sogenannte Pass of Tears, der Tränenpass, einer der dramatischsten Bergpässe dieser Gegend. Diese Landschaft und das anspruchsvolle Klima verlangen nach dem richtigen Outfit. Die beliebteste Reitkleidung der Gauchos besteht aus lockeren Hosen, sogenannten bombachas. Jakob trägt seine Baskenmütze schräg, wie fast alle Patagonier. In seinem dicken Ledergürtel steckt ein facon, ein Dolch.

Gaucho Alberto Russo zieht einen Sattel fest
Gaucho Alberto Russo zieht einen Sattel fest

Mein Criollo-Pferd heißt Chicholin, eine ruhige, folgsame Dame, perfekt für eine so unerfahrene Reiterin wie mich. Fast überall in der Welt werden Pferde mit beiden Händen gelenkt, doch die Criollos, so lernen wir, führt man mit nur einer Hand. Die Pferde sind hervorragend geeignet für die schmalen Bergpfade und entscheiden lieber selbst, ob sie nach rechts oder links ausweichen. Uns wird deshalb geraten, einfach ruhig im Sattel zu sitzen und alles andere den Pferden zu überlassen.

Das Wetter ist wechselhaft, Ponchos schützen gegen Kälte
Das Wetter ist wechselhaft, Ponchos schützen gegen Kälte

Jakob hat die Pfade, denen wir heute folgen, selbst ausgebaut. Von unten im Tal aus konnte er den Trek über den Berg planen, dem er selbst den Namen „Tränenpass“ gab. Der Weg führt steil und dramatisch in die Höhe, wo der Wind schärfer weht. Jegliche Höhenangst sollte spätestens hier ignoriert werden. Jakob zufolge gibt es zwischen den Gipfeln, in den Tälern und Wäldern wunderbare Orte zu entdecken, kleine Schätze, die die Reiter finden, indem sie ihren Pferden folgen. Wir überqueren die Baumgrenze und reiten an einem Kamm aus Vulkanasche entlang, die so locker ist wie Sand. In der Ferne erkennen wir riesige blaue Seen und die Pässe, die in die Anden hinaufführen. Wir sehen keine anderen Menschen. Hier sind wir grenzenlos einsam, allein mit der endlosen Natur.

Der eindrucksvolle „Tränenpass“
Der eindrucksvolle „Tränenpass“

Daisy hat stets einen kleinen Taschenflakon mit Whiskey dabei, einer Mischung, die sie täglich selbst zusammenstellt. Die Gauchos führen größere Lederbeutel mit Wein mit. Ein kräftigender Schluck ist oft sehr willkommen. Wir stoßen an auf die wunderbare Landschaft, die wir durchreiten, und darauf, dass wir manchmal den Mut aufbringen müssen, auf dem Rücken unserer vierbeinigen Kameraden die Kämme hinauf- und hinabzureiten. Jakob beruhigt uns jedes Mal. Die Pferde sind dazu geboren, das schwierige Terrain geschickt zu bewältigen. Sie befinden sich sozusagen im Autopilot- Modus und lassen uns nie im Stich. Sie ermöglichen uns, die phantastischen Ausblicke gelassen zu bewundern.

Verschnaufpause mit Ausblick
Verschnaufpause mit Ausblick

Am Abend erwartet uns das gemütliche Base Camp mit einem Mahl, das auf dem offenen Feuer zubereitet wurde: riesige Steaks von Rindern aus der Gegend, perfekt auf dem parilla gegrillt. Beim flackernden Kerzenschein in der gemütlichen Hütte werden zahlreiche Geschichten und Erfahrungen ausgetauscht. Jakob gesteht, dass seine Eltern sich für ihn eine stabilere, sprich städtische Zukunft erträumt hatten, aber er war seinem Herzen gefolgt und seiner Leidenschaft für das einsame, wilde Patagonien. Er fand seine Inspiration unter anderem bei einem alten Gaucho, der ein bescheidenes Leben in einer abgelegenen Hütte führte, fast wie ein Einsiedler. Er lebte allein mit seinem Pferd und war mit seinem bescheidenen Dasein zufrieden. Das bestärkte unseren Guide, sich für ein Leben auf dem Land zu entscheiden. Der Malbec- Wein fließt am Feuer in Strömen, der imposante Nachthimmel ist klar und nah.

Der Morgen zieht rasch herauf, schon steht wieder frisch gebrühter Kaffee auf dem Holzofen. Wir werden das Gebiet um das Camp herum erkunden und im El Bosque Fly Camp übernachten, wo wir die Wahl haben, entweder in einem kleinen Zelt zu nächtigen oder in einem warmen Schlafsack unter freiem Himmel. Die Sternenpracht hier ist legendär, der Grund ist offensichtlich: Völlig ohne störenden künstlichen Lichteinfluss, wie man ihn in Europa praktisch überall gewohnt ist, leuchten sie wie Diamanten vor einem tintenschwarzen Hintergrund. Ein Gefühl von Erhabenheit und Demut macht sich breit. Dieser einzigartige Anblick lässt niemanden kalt.

Komfortable Zelte mitten in der Natur
Komfortable Zelte mitten in der Natur
Im Fly Camp war Gaucho Alberto Russo auch für das Kochen verantwortlich
Im Fly Camp war Gaucho Alberto Russo auch für das Kochen verantwortlich
Kochstelle in einem der Camps
Kochstelle in einem der Camps

Einige Tage verbringen wir in den tiefen Wäldern mit Bäumen, die so hoch sind, wie das Auge es himmelwärts gerade eben ausmachen kann. Unsere Criollos suchen sich durch diese Kathedralen aus grünbemoosten, eleganten Stämmen. Nach ein paar Stunden ist eine Siesta zwingend für die Pferde, die stets dafür von ihren recados, den Sätteln, befreit werden – wie auch für uns Reiter. Es gibt wohl keinen besseren Schlaf als in der Stunde nach einem guten Mittagessen mit ein paar Gläsern Malbec-Wein und mit einem Schaffell als Kissen. Nach einer kurzen Schwimmpause zum Wachwerden brechen wir am Spätnachmittag wieder auf.

Unser Ziel am nächsten Tag ist das Camp von Felipe, einem Freund und Nachbarn von Jakob, der Jakotango Zugang zu seinen riesigen Privatländereien erlaubt. Wir überqueren einen weiteren beeindruckenden Pass, aber diesmal ist das Wetter gegen uns. Es ist eiskalt, und unter den scharfen Böen ducken wir uns tief in die wollenen Ponchos und treiben die Pferde an, damit wir schneller die Wälder in der Ferne erreichen, wo es weniger windig und kalt sein wird.


„Eiskalte Winde oder brennende Hitze, ich bin stets zufrieden und weiß, dass ich am richtigen Ort bin und nirgendwo anders sein will. Es gibt einem ein Gefühl von Frieden mit sich selbst.“
JAKOB VON PLESSEN

Das Trinken von Yerba-Matetee gehört in Argentinien natürlich immer dazu.
Das Trinken von Yerba-Matetee gehört in Argentinien natürlich immer dazu.

Das Wetter in Patagonien ist ein eigenes Thema, es wechselt ständig, von warmen Tagen mit einem klaren, blauen Himmel zu windigen, bewölkten und kühlen Tagen, für die man sich dicke Handschuhe wünscht. Jakob liebt diesen endlosen Wetterwechsel und die gelegentlichen Extreme. „Eiskalte Winde oder brennende Hitze, ich bin stets zufrieden und weiß, dass ich am richtigen Ort bin und nirgendwo anders sein will. Es gibt einem ein Gefühl von Frieden mit sich selbst“, sagt er. Dieses Gefühl können wir nach wenigen Tagen schon auch als Besucher nachempfinden, vor allem als uns sein Freund Felipe ein sagenhaftes Gauchomahl auf dem offenen Feuer zubereitet.

Der patagonische Nachthimmel leuchtet majestätisch, das Feuer lodert, in den Gläsern funkelt der Malbec. Wahrscheinlich war Winston Churchills Spruch für keine Gegend der Welt wahrer als für diesen außergewöhnlichen Flecken Erde, den man tatsächlich nicht besser als vom Pferde aus erkunden kann.

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