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Massiver Protest gegen Rechtsextreme in Kassel Kassel zeigt Gesicht - Lübckes Gesicht

In Kassel wollten Neonazis angeblich gegen die "Instrumentalisierung" des Lübcke-Mordes protestieren. Am Ende kamen statt 500 nur ein paar Dutzend Rechte. Was blieb, war ein jammernder Organisator und viel Gegenprotest.
Demonstranten gegen den Aufmarsch der Kleinstpartei "Die Rechte" halten sich Porträts des erschossenen Walter Lübckes vor das Gesicht.

Demonstranten gegen den Aufmarsch der Kleinstpartei "Die Rechte" halten sich Porträts des erschossenen Walter Lübckes vor das Gesicht.

Foto: Uwe Zucchi/dpa

Kassel steht nicht auf. Kassel nimmt Platz. Es herrscht ein fröhlicher Ausnahmezustand an diesem Samstag. Über dem Zentrum steht ein Polizeihubschrauber, um einen Überblick zu behalten über die 10.000 Demonstrierenden im Zentrum. Die komplette Innenstadt ist abgeriegelt, es verkehren weder Busse noch Straßenbahnen. Das viel beschworene "breite gesellschaftliche Bündnis", hier lässt es sich besichtigen.

Unter dem Motto "Kassel nimmt Platz" hatten sich in kürzester Zeit mehr als 120 Parteien, Organisationen, Institutionen und Vereine angemeldet, von der Antifa-Wetterau bis zum Mieterbund, von der MLPD bis zur CDU, vom Verein der Hinterbliebenen des Nazi-Regimes bis zu den Gewerkschaften, von Seebrücke e.V. bis zu den Kirchen.

Von einem "Spinnennetz" an Veranstaltungen war zuvor die Rede, mit der man dem Aufmarsch der rechtsextremen Splitterpartei "Die Rechte" begegnen wollte. Ziel war es, durch dezentrale Veranstaltungen den öffentlichen Raum so eng zu machen, dass den Aufmarschierenden kein Platz mehr bleibt.

Der Plan ging schon im Vorfeld auf. Gegen "Pressehetze, Verleumdung und Maulkorbphantasien" im Zusammenhang mit der Ermordung des Regierungspräsidenten Walter Lübcke in seinem Haus bei Kassel wollte "Die Rechte" ihre "Gegenoffensive" mobilisieren - und damit vom Vorplatz des Hauptbahnhofs bis vor das Regierungspräsidium ziehen.

Vor dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof war die Stadt mit ihrem Verbotsversuch gescheitert. Dort mochte man im Aufmarsch der Neonazis weder eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung noch eine Verunglimpfung des Andenkens des Verstorbenen erkennen. Per Auflagenbescheid gelang es der Stadt immerhin, "Die Rechte" und ihre bis zu 500 erwarteten Sympathisanten aus der Innenstadt zu verdrängen.

Aus der Stadt verbannt

Vom Vorplatz des Hauptbahnhofs wurde "Die Rechte" verbannt, zugewiesen wurde ihr zuletzt der Unterneustädter Kirchplatz, gleich vor dem ehemaligen Untersuchungsgefängnis.

Der Weg in die Unterstadt ist damit an diesem Tag blockiert, die Fuldabrücke abgesperrt. Es ist, was die Polizei eine "Situation" nennt. Sie entspannt sich schnell. Per Lautsprecher bitten die Beamten, eine Rettungsgasse frei zu halten: "Links bleiben und die rechte Seite bitte frei lassen". Gelächter.

An der Brücke teilt sich der Strom der Demonstranten, gefeiert wird trotzdem. Das mobile Soundsystem spielt "Beate Zschäpe hört U2", "Schrei nach Liebe", "Bella Ciao" und andere antifaschistische Klassiker - aber nicht zu laut, der älteren Demonstrantinnen und Demonstranten wegen.

Weithin wehen Fahnen der Grünen, der Linken, der Arbeiterwohlfahrt, Regenbogenfahnen. Auf Plakaten steht "Du kannst schon Nazi sein, dann bist du halt kacke", auf T-Shirts "Nazis nerven mehr als Wespen". Skandiert wird "Es gibt kein Recht auf Nazipropaganda" und "No pasarán". Auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Regierungspräsidiums sind gekommen und zeigen Gesicht - es ist das Gesicht des ermordeten Walter Lübcke.

Auf dem abgesperrten Unterneustädter Kirchplatz ist, begleitet von fünf Gleichgesinnten, inzwischen auch Organisator Christian Worch eingetroffen. Er lehnt an seinem alten VW, und erklärt säuerlich, die Stadt sei "nicht so kooperativ gewesen". Kassel sei nicht wegen Lübcke als Ort der Kundgebung gewählt worden, sondern weil es "zentral" in Deutschland liege. So hätten Kameraden aus dem ganzen Land die Gelegenheit, sich einzureihen.

Mobilisierung der Szene bleibt aus

Mit diesen Kameraden allerdings ist kaum zu rechnen. Die NPD habe abgewunken, auch der "Dritte Weg" mochte sich mit dieser Veranstaltung nicht gemein machen. Überdies gebe es Nachwuchssorgen, "junge Menschen" würden das "harte Leben" in der rechtsextremen Szene meiden. Ein Kollege mit Sonnenbrille und "Freiheit für Ursula Haverbeck", die verurteilte Holocaust-Leugnerin, nickt finster. Umringt ist das Häuflein von einer Überzahl aus Polizeikräften und noch mehr Journalisten. Von den Absperrungen her erklingen Trillerpfeifen und "Nazis raus!"-Rufe.

Um 12.50 Uhr endlich hält ein gelber Doppeldeckerbus aus dem Ruhrgebiet, dem knapp 70 Demonstrantinnen und Demonstranten entsteigen. Stiernacken, Glatzen, Dreiviertelhosen und tätowierte Waden, aber auch ein paar brave deutsche Mädels und Damen. Sogar Adolf Hitler ist gekommen - oder wenigstens sein Doppelgänger, ein niederländischer Neonazis mit Hang zur Mimikry und hoher Fotogenität.

Neonazis in Kassel

Neonazis in Kassel

Foto: Uwe Zucchi/dpa

Beobachter der rechten Szene sondieren die Lage, fotografieren und zeigen sich "beinahe enttäuscht" über den kümmerlichen Mobilisierungsgrad der militanten Szene. Gerne hätte man deren Köpfe vor die Linse bekommen. Ein Neonazi filmt mit dem Smartphone zurück. Als ein Teilnehmer auf die Fotografen losgehen will, wird er von einem Kameraden zurückgehalten: "Lass sie, die sind genau dafür da!"

Ein weiterer Bus mit 40 Aktivistinnen und Aktivisten, heißt es, stecke noch fest. Am Hauptbahnhof, wo es drei Festnahmen gibt (wegen Waffenbesitz und verfassungsfeindlichen Symbolen) und von wo kein Durchkommen ist durch das Meer an Gegendemonstranten. Es muss ein Stadtbus organisiert werden, um unter Polizeischutz sicheres Geleit zu gewährleisten. Dann kann es losgehen.

31 Festnahmen

Los geht es mit entrollten Plakaten über einen Zubringer, eine Bundestraße, an einem Autohaus vorbei. Es ist ein Spießroutenlauf, kein Marsch. Von den Redebeiträgen auf der Kundgebung am Platz der Deutschen Einheit ist kaum etwas zu verstehen, zu laut der Lärm der Gegendemonstranten: "Nazis verpisst euch, keiner vermisst euch!"

An einer Stelle, wo beide Parteien nur noch wenige Meter trennt, fliegen vereinzelt Bierflaschen, kommt es zu Gerangel. Insgesamt werden 31 Personen vorübergehend festgenommen - was aber den friedlichen Charakter der "Großlage" nicht weiter beeinträchtigt.

Der Schwarze Block aus dem benachbarten Göttingen hat sich an diesem Tag entweder nicht gezeigt - oder ist in der fröhlichen Menge aufgegangen. Irgendwann schafft es sogar ein Eiswagen durch die Absperrung, versorgt Polizistinnen wie Demonstrierende.

Unter "Ihr könnt nachhause fahr'n!"-Rufen besteigen kurz nach 16 Uhr die zugereisten Neonazis wieder ihren Bus.

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) hatte den rechten Aufmarsch als "widerlich und scheinheilig" kritisiert, weil "ausgerechnet die, die den Hass schüren", nur wenige Wochen nach dem Mord an Walter Lübcke durch Kassel marschierten.

In Kassel aber hat die Gesellschaft an diesem Tag eine gesunde und kräftige Immunreaktion gezeigt. Und keinen Platz gelassen für den Hass.

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